Gedicht "Textaufgabe"

interpretiert von Michael Braun (gesendet im Deutschlandfunk am 7.12.09)


Die mathematische Vermessung der Existenz, die Berechnung der Lebenszeit: ist sie möglich? Dieses Denkspiel erprobt die Dichterin Susanne Stephan (geb. 1963) in lakonisch verdichteten Versen - um gleich den inneren Widersinn dieses mathematischen Experiments bloßzulegen. Das lyrische Subjekt wird durch die eigene Lebensumgebung geschickt und dann wird ironisch eine absurde Formel als Existenz-Koeffizient daraus abgeleitet. Die beiden Schlussverse erst riskieren poetische Emphase - sie stellen eindringlich die Frage nach der Vergänglichkeit.

Nimm zwei Stufen in den Garten.

Zähle die Schritte um den Baum.
Sammle fünf Äpfel aus dem Gras.

Rechne dich selbst dazu
und hoch drei.

Was ist die Summe
und was die Wurzel aus.

Wie lange, meinst du,
bist du noch hier.


(Susanne Stephan, Gegenzauber. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2008)

Der Titel des Gedichts ist nicht nur als ironische Pointe zu lesen. Denn eine "Textaufgabe" gibt es nicht nur auf dem Feld der Mathematik. Es gehört wesenhaft zu den Aufgaben der Dichtkunst, die Frage nach den letzten Dingen zu stellen. Das Rätsel des Daseins in immer neuen Anläufen einzukreisen: das ist die "Textaufgabe" der Poesie. 

© Deutschlandfunk Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2009