Margret Rettich (1926-2013)
Ihre Kinderbücher in der Universitätsbibliothek Braunschweig
Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 28.11.2013
Liebe
Frau Dr. Nagel, sehr geehrter Professor Brandes, liebe Freunde von
Margret und Rolf Rettich, sehr geehrte Damen und Herren,
ja,
Margret Rettich fehlt vielen; aber Carola und Matthias Bernau und ich
als Vertreter der Familie freuen uns sehr, dass jetzt, ein halbes Jahr
nach ihrem Tod, diese schöne Ausstellung zusammengestellt wurde, dafür
herzlichen Dank Ihnen, Frau Dr. Nagel und Herrn Wolff. Und danke für die
Einladung, hier etwas zu Margret Rettich, meiner Tante, sagen zu
dürfen. In den Vitrinen ein wunderbarer Überblick über Margret Rettichs
Werke als Kinderbuchillustratorin und -autorin, oft in Zusammenarbeit
mit ihrem Mann Rolf Rettich, sowie Manuskripte, die einen Einblick in
ihre Arbeitsweise geben. Besonders spannend in dieser Zusammenstellung
finde ich die Entwicklung ihres Stils von der
schwarz-weiß Grafik der
Sechziger Jahre, beweglich und expressiv – auch Ausdruck einer
Zeitstimmung, der „Swinging Sixties“ –, bis zu den späteren farbigen,
meisterlichen man kann sagen: Gemälden in, beispielsweise, der
„Geschichte vom Wasserfall“ von 1974 und der „Reise mit der Jolle“, für
die Margret Rettich 1981 als Autorin und Illustratorin den Deutschen
Jugendliteraturpreis erhielt.
Um
diese besondere Doppelbegabung als Grafikerin und
Geschichtenerzählerin, diese erstaunliche Kreativität bis ins hohe
Alter zu beschreiben, möchte ich als „Unterbau“ nennen: Handwerk und
Erfahrung, als „Oberbau“: Lebenszugewandtheit und Witz. Handwerk: das
ist ihre profunde Ausbildung als Gebrauchsgrafikerin an der
Kunstgewerbeschule Erfurt kurz nach dem Krieg; dort hat sie in der
Bauhaus-Tradition nicht nur Grafik, Druck, Kalligraphie, sondern auch
Arbeiten in Ton und anderen Materialien umfassend gelernt. Daher auch
ihre Wertschätzung des Handwerklichen, ihr Interesse dafür, „wie die
Dinge gemacht werden“. Erfahrung: Das ist ihr genauer Blick, ihre
zugeneigte Beobachtung des Alltags. Auch ihre Art zu erzählen ist davon
geprägt; und Walter Benjamins Gedanken in seinem Aufsatz „Der Erzähler“
über Nikolai Lesskow scheinen auf sie gemünzt: „Der Erzähler“, schreibt
Benjamin, „nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung, aus der eigenen
oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die
seiner Geschichte zuhören.“ Margret Rettich hat am liebsten Geschichten
erzählt, die sie aufgenommen hatte und weitergeben wollte – angefangen
mit der „Geschichte vom Wasserfall“, die eine alte Dame in einem
Schweizer Berghotel ihnen am Abend erzählt hatte.
Ich
erinnere mich, als ich damit begann, den Erwachsenen mal etwas genauer
zuzuhören, vielleicht bei einer Konfirmation in unserer Familie und
sicher in den alternativbewegten siebziger Jahren, da höre ich Margret
Rettich ausrufen: "Jetzt fangen sie zur Selbstverwirklichung auch noch
an zu töpfern und preisen es an! Dabei war es früher ein Handwerk, das
hat man richtig gelernt."
Tief
eingeprägt hat sich mir auch eine Bemerkung von ihr – weil es ein
Gesichtspunkt war, der mir damals völlig fern lag –, zur Anlage von
Schlossgärten. Das Gespräch ging um Sichtachsen, Labyrinthe und Hecken
und Margret Rettich meinte ganz unpathetisch: „Für die, die den Garten
angelegt haben, war das natürlich nichts. Erst für die nächste
Generation. Aber die Menschen hatten ja Zeit –!"
Erfahrungen
brauchen ihre Zeit, gute Dinge brauchen ihre Zeit. Die Rettichs haben
sich gerne mit schönen alten Dingen umgeben, oft Flohmarktfunde:
Gegenstände, die eine Geschichte haben, die von einem vielleicht
vergessenen Handwerk zeugen, aus einer Zeit vor der industriellen
Massenproduktion. Manchmal waren sie Anlass für ihre Bücher: So regten
alte Schautafeln aus der Grundschule, die Margret Rettich vor dem
Sperrmüll gerettet hatte, zum Band „Erzähl mal, wie es früher war“ an.
Auch Walter Benjamin, Sohn eines Kunst- und Antiquitätenhändlers, hat
alte Kinderbücher gesammelt, und sein Buch „Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert“ vereint Prosaminiaturen über das Rauschen im ersten
Telefon, über den Lesekasten oder das Kaiserpanorama.
Margret Rettichs Mutter war übrigens Telefonistin in Erfurt, bevor sie nach Stettin geheiratet hat (also ein moderner Beruf, „etwas in der IT-Branche“ würde man heute sagen), und was sie von dieser Tätigkeit erzählt hat, ist in die Geschichte „Kaiserweihnachten“ in den „Wirklich wahren Weihnachtsgeschichten“ eingeflossen (als plötzlich Kaiser Wilhelm II. in der Leitung ist und alle Telefondamen dieser Stimme lauschen, „abgehackt und forsch“). Dass Margret Rettich die „gute alte Zeit“ auch nicht zu idyllisch gesehen hat, zeigt z.B. das Bilderbuch „Komm, wir drehen die Zeit zurück“ mit wunderschönen Tableaus, auf denen dargestellt ist, wie sich eine Landschaft – immer die gleiche Flusslandschaft mit einem Berg – im Laufe von 2000 Jahren verändert hat. Es gibt kaum einen anschaulicheren Geschichtsunterricht! In den begleitenden kleinen Erzählungen wird immer eine Familie aus der Epoche vorgestellt, und im 19. Jahrhundert hat sie einen Untermieter, der Karl Marx bewundert! Allerdings wird ihm gekündigt.
Ein ähnlich glücklicher und wirklich erstaunlicher Zufall führte in den
fünfziger Jahren Margret und Rolf Rettich zusammen: Er, der eigentlich
in Westdeutschland lebt und als Grafiker erste Erfolge hat, will noch
einmal das Haus seiner
Großeltern in Erfurt besuchen, wo er seine ersten zehn Lebensjahre verbracht
hat. In diesem Haus leben mittlerweile die in Stettin „ausgebombten“ Müllers,
Rolf Rettichs Geburtszimmer ist jetzt das Arbeitszimmer ihrer Tochter Margret.
Margret und Rolf Rettich leben dann zwei Jahre lang in Leipzig und arbeiten
sehr erfolgreich für die Messe, bis sie 1960 nach Westdeutschland, nach
Braunschweig, übersiedelen.
Dort
gelingt ihnen nach einigen Werbeaufträgen recht bald der Einstieg in die Kinderbuchillustration.
Dank ihres phantasievollen Zeichenstils und der großen Arbeitsfreude werden sie
im Lauf der 60er Jahre zu einer der bekanntesten Illustratoren, die Werke von
Astrid Lindgren, James Krüss oder An Rutgers mit unverwechselbaren Zeichnungen
bereichern.Von heutiger Warte aus erkennt man, welche Pionierleistung dieser
frische, fröhliche, ganz un-betuliche Strich war.
Jetzt
sind wir in den 70er Jahren angelangt! In den Siebzigern
beginnt Margret
Rettich, eigene Bilderbücher zu entwerfen – die erwähnte „Geschichte vom
Wasserfall“ (1974) oder „Zinnober in der grauen Stadt“ (1973), der vor kurzem
wiederaufgelegt wurde –; und sie stellt Geschichten zusammen, die dann oft von
Rolf Rettich illustriert werden. Nicht nur in seinen Zeichnungen, auch in ihren
Texten blitzt das erwähnte Chaos als Urgrund des Epischen, die Lust am „schönen
Durcheinander“, wie sie gesagt hätte, immer wieder auf. Jetzt in der
beginnenden Adventszeit sei an manche „Wirklich wahre Weihnachtsgeschichte“ erinnert, in der das Chaos die
Vorbereitungen streift und das Fest nur umso schöner macht. So an die
Geschichte vom Christbaum bei Tante Trude, dem größten und natürlich schönsten
von ganz Stettin, der, von zwei sich langweilenden Kindern ganz zart
angestupst, auf die große Kaffeetafel stürzt und endlich das steife
Familienfest aufmischt; an das Lichtspektakel im Weihnachtsgottesdienst, das
ganz anders verläuft als geplant und nach dem die Menschen beschwingt nach Haus
gehen, „als kämen sie aus dem Kino“. An die verlegten Geschenke, verwechselten
Pakete, die Kinder, die sich natürlich nur ein wenig verlaufen oder die, wie
Elsie, im Klo stecken bleiben… (diese Geschichte gab’s dann nochmal als "Single-Auskopplung": als eigenes
Bilderbuch und erfolgreichen Fernsehfilm). Das sind Geschichten, die sich Kindern
wie Erwachsenen einprägen.
In
Erinnerung rufen möchte ich aber auch die stillen Geschichten, z.B. – mein
Favorit, vielleicht weil es so ein poetischer Einfall ist – „Post für den alten
Mann“. Die Nachbarn im Mietshaus machen sich Sorgen: der arme alte Mann, so
allein, und zu Weihnachten keine Post! Bis endlich der Paketbote kommt und
allerlei Päckchen für ihn abgibt. Darin: Erinnerungsstücke, die er sich selbst
geschickt hat und jetzt auspacken und neu betrachten kann. Auch ihm gehen die
Erzählungen nicht aus… Im übrigen, es sind wirklich „Wirklich wahre
Weihnachtsgeschichten“, das kann ich bezeugen, denn ich komme darin vor, mit
Klarnamen („Die Geschichte vom Wunschzettel“) – aber auch hier ist der letzte
Schliff die gute Erfindung...
Margret Rettich hat erlebt, wie ihr Elternhaus in Stettin bei einem Luftangriff zerstört wird; ihre Großmutter stirbt in den Trümmern, ihr Lieblingscousin Arno, der sie zum Zeichnen ermuntert und mit zu Abendkursen genommen hat, fällt in Russland. Ihr Vater, ihre Mutter und die jüngere Schwester müssen mit wenigen Dingen, die in einen Rucksack passen, auf die Flucht gehen zu den mütterlichen Verwandten in Erfurt. Margret selbst wird abkommandiert zum Ostwall-Schippen, und als „Maid“ des Reichsarbeitsdienstes soll sie auf Dörfern im Osten aushelfen, durch die bereits große Flüchtlingstrecks ziehen. Wegen einer unvorsichtigen politischen Äußerung (ihr Vater hat immer heimlich BBC gehört) kommt sie in eine Strafabteilung in Unterlüss und muss unterirdisch Granaten polieren. Sie begegnet – Schock ihrer Generation – KZ-Häftlingen. Als sie in einem Skizzenblock die anderen Frauen zeichnet, fällt ihr Talent auf und sie erhält einen Schreibtischposten; ein Offizier gibt ihr die Weisung, sie solle „nach Herzenslust malen und zeichnen, bis dieser verdammte Krieg zuende ist“. Als alles zusammenbricht, schlägt auch sie sich nach Erfurt durch. Stettin mit allen Familien- und Kindheitsgeschichten ist jetzt Vergangenheit und kann nur in der Erzählung bewahrt werden.
Diese persönliche Erfahrung, die Odyssee durch ein Land im letzten Kriegsjahr, hat sicher auch manche historische Erzählung von Margret Rettich geprägt (denn sie liebte, wie die schönen alten Dinge, auch historische Stoffe), so die „Reise mit der Jolle“, für die sie 1981 den Jugendliteraturpreis erhielt. Auch für Kinder heute kann es noch sehr spannend sein mitzuerleben, wie man sich durchschlägt ohne Handy oder GPS. Denn da können die Akkus versagen, und der Empfang plötzlich gestört sein. Wichtiger ist der innere Akku. Bei Margret Rettich war er sicher mit dem Netzwerk ihrer Kindheit verbunden, mit phantastischen Schaltkreisen. Und mit Erfahrungen, die damals noch nicht im geschützten kindgerechten Rahmen gemacht wurden; so erinnerte sie sich ihr Leben lang daran, wie ihre Großmutter vor ihren Augen eine Gans gerupft und ausgenommen hat. In den Familiengeschichten schildert sie sehr anschaulich auch kindliche Ängste, frühe „schrecklich schöne Schauergeschichten“… Aber das kann nur den wundern, der meint, das Reich der Phantasie sei ein hübscher Kleingarten. Eine „schrecklich schöne Schauergeschichte“ handelt davon, dass ein Kind namens Margaretchen nachts ein Reh befreit, das eigentlich als Konfirmationsbraten willkommen war. Vielleicht hätte es Margret Rettich gefallen, dass wir kurz nach ihrem Tod im hinteren, naturnahen Teil ihres Gartens ein großes Reh aufgestört haben.
Das
am stärksten zerlesene Rettich-Buch war bei meinen eigenen Kindern
„Hier kommen die Radieschen“, ein Gemeinschaftprojekt der Rettichs,
ohne Worte. „Radieschen“ verstehe ich als Diminutiv von Rettich, und
die Radieschen, zwei Kinder, bringen ins Kinderzimmer allerlei
Mini-Chaos-Geschichten mit natürlich baldiger glücklicher Wendung.
Aber, oh je, ein Radieschen-Kind steigt auf ein wackliges Fass, um an
einen Apfel zu gelangen. Es fährt Rollschuh ohne Knieschützer. Die
beiden Radieschen spielen, wer von der höchsten Treppenstufe springen
kann – sicher kein TÜV-geprüftes Spielgerät!
Auch
das Geheimnis der erfolgreichen „Jan und Julia“-Bände liegt wohl hier:
neben der genauen Schilderung des Kinderalltags, den Bildern, die sich
lange, immer wieder, betrachten lassen, ist es die kleine besondere
Pointe, so dass beide, das Kind und der vorlesende Erwachsene, am
Schluss nochmal auflachen und sich vielleicht selbst noch etwas zu
erzählen haben. Mehr pädagogische Zutat, und das Buch wäre versalzen.
Dicht
dran in der Liste der zerlesenen Rettich-Bücher sind die von Margret
Rettich illustrierten „Kindergedichte“, besonders beliebt die Seiten
zum „Bucklichten Männlein“ und der „Ammenuhr“. Sie wusste schon, was
die allererste und immer noch wirkungsvollste Kinderliteratur ist: die
Ammenverse. Sie selbst hat eigene Kinder-Reimgedichte verfasst („Es war
einmal eine Gans, die wackelt’ mit dem Schwanz“) und in „Kleine
Märchen“ vierzig Märchen aus verschiedenen Ländern neu erzählt. Auch
hier sieht sie sich als eine, die sich in eine Tradition stellt und
weitergibt.
Reimgedichte und Märchen sind nicht nur die
älteste Kinderliteratur, sie kommen auch aus einer mündlichen
Erzähltradition. Die mündliche Erzählung – und das gute Zuhören! – sind
eine heute wirklich seltene Kunst. Der Anfang dieser Woche leider
verstorbene Peter Kurzeck war so ein Meister im freien Erzählen; vor
zwei Jahren ungefähr hatte ich Margret Rettich eine CD von ihm
geschenkt, und sie schrieb mir später in einer Mail, dass sie eine
halbe Stunde in der dunklen Garage im Auto gesessen sei, weil sie sich
einfach nicht von Kurzecks Erzählstimme lösen konnte. Aber Margret und
Rolf Rettich selbst hatten nie Probleme, das kritischste Publikum,
einen Saal voller Kinder, bei einer Lesung in ihren Bann zu schlagen.
Sie frei erzählend oder mit ruhiger Stimme vorlesend, er zeichnend. Mit
seiner schnellen sicheren Hand, seinem schrägen Witz. Auch hier haben
sie sich ideal ergänzt; ihre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft war
einmalig und bewundernswert. 1997 erhielten sie gemeinsam den Großen
Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach.
Zum „Unterbau“ Handwerk und Erfahrung gesellt sich bei Margret Rettichs Sachbüchern noch die gründliche Recherche. Sie interessierte der handwerkliche wie historische Aspekt der Dinge; so hat sie sich beispielsweise für das „Buch vom Bergwerk“ oder ihre historischen Erzählungen wie „Soliman der Elefant“ gründlich in die Materie eingelesen. Ihr Horizont war beeindruckend weit, als Leserin (so hat sie sich in ihrem letzten Lebensjahr noch durch den „Ulysses“ von James Joyce gearbeitet), als kulturell und historisch Interessierte, als Zeitgenossin. Sie konnte mühelos von Rezepten für Brombeermarmelade zu Balzac und von dort zu Beethovens Symphonien wechseln. Mir hat sie einmal am Frühstückstisch in einer langen Erzählschleife die Higgs-Teilchen erklärt (kurz zuvor war ihre Großnichte mit ihrem Freund, einem Physiker, zu Besuch gewesen), zwischendurch wahrscheinlich die Katzen gefüttert, ein kurzes Telefonat geführt und, nebenbei, etwas für das sicher dreigängige Mittagessen angerührt – sie war in ihrer entschleunigten Küche immer noch bei den beschleunigten Teilchen in Genf oder den Neutrinos in einem Tunnel unterm Apennin, als ich mich selbst schon längst mit der Erklärung zufrieden gab, dass die Higgs-Bosonen eben etwas sind, das irgendwelche Theoriegebäude zusammenhält.
Margret
Rettichs einziges romanähnliches Buch, abgesehen von den
autobiographischen Aufzeichnungen für die Familie, ist vielleicht „Die
Rabenschwarze“. Aber sie ist doch eher wieder eine erfahrungsgesättigte
Erzählung, diesmal eines Katzenlebens. Woher weiß die Autorin
eigentlich so genau, wie es ist, mit einer Taube zu kämpfen, Frösche zu
verschlucken, auf freiem Feld zu leben, drei Katzenjunge von Versteck
zu Versteck zu schleppen und eines davon, das am Bein verletzt ist, bei
diesen komischen „ungezogenen“ Wesen, den Menschen, unterzubringen? Sie
weiß es jahrelanger Beobachtung ihrer eigenen Katzen und anderer Tiere.
Die beiden anderen Katzenjungen, die auf ein Überleben in der freien
Natur vorbereitet werden, verhalten sich übrigens stark
geschlechtstypisch: der forsche kleine Kater, das zurückhaltende
ängstliche Kätzchen (wie in vielen ihrer Geschichten, aber
wahrscheinlich hätte sie es albern gefunden, dies nur aus Gründen der
political correctness umzustellen). Darüber aber die Rabenschwarze, die
starke, freie und allermutigste Katze, in der sich die Autorin, die
große Weltbeobachterin und besonnene Künstlerin, vielleicht selbst
porträtiert hat.
Sie musste keine Romane schreiben, keine
fiktive Welt entwerfen – ihre Leben war die Fülle, auch an Geschichten.
„Der Erzähler weiß Rat“, schreibt Walter Benjamin abschließend in
seinem Essay über den Erzähler, „nicht wie das Sprichwort: für manche
Fälle, sondern wie der Weise: für viele. Denn es ist ihm gegeben, auf
ein ganzes Leben zurückzugreifen… Der Erzähler – das ist der Mann [die
Frau!], der den Docht seines Lebens an der sanften Flamme seiner
Erzählung sich vollkommen könnte verzehren lassen“.
„Die
sanfte Flamme der Erzählung“ – da sehe ich Margret und Rolf Rettich
wieder am Tisch sitzen, mit Freunden oder mit der Familie, und
erzählen. Aber man muss nur ihre Bücher aufschlagen, sich über Rolfs
skurril erzählende Zeichnungen beugen oder über Margrets „episch“
angelegte Tableaus, dann ist der Schein dieser Flamme wieder da
(verbreitert und verbreitet sich), vor allem auch in ihren wirklich
wunderbaren, weisen Geschichten.