Höhlengedichte (aus Gegenzauber)

 

Mammut und Menetekel (Grotte de Pech-Merle)

 

„Im Schutz der Höhlen beginnt der Frühmensch mit einer neuen Form des Schlafes, dem geborgenen Tiefschlaf… So wurde der Mensch, beim Durchgang durch die Höhle, das träumende Tier… Der vom Jagdbetrieb Ausgeschlossene wird zum Träumer, Erzähler, Narren, Bildermacher…“ (Hans Blumenberg, Höhlenausgänge)

„Die zurückgelassenen Zeichnungen auf den Steinen der vergessenen Höhlen erschließen diese letztlich immer.“ (Robert Juarroz, Dreizehnte vertikale Poesie)

Handnegativ

Die rot umflammte Hand
eine H
and abgehalten
auf Armlänge,
auf Augenhöhe,

dass einer lossprühen kann
präzise mit
dem Mund
gut gebundene Erde
um Spitzen und Täler der Finger,

eine Hand: abwesend,
leuchtend nah.

Grotte de Pech-Merle, Département Lot;
20 000 Jahre alt

Das sog. gelbe chinesische Pferd von Lascaux;
17 000 Jahre alt

 

… und einmal hat er es gemalt,
bei
diesem unsicheren Licht
der Fettfackel, letzten Gabe vom Tier:

wie es vorüberzog, sein Pferd,
allein
über die Steppe dahin
und schon wieder mitgerissen von der Herde

in einem stiebenden Lauf
von
ihm weg –

für immer den anderen hinterher.

Löwenpanneau, Grotte Chauvet, Ardèche; ca. 35 000 Jahre alt

 

In der Höhle der Löwen

 

Wenn du mit uns hineingehen willst,
musst
du dem Tier nahekommen wie nie;

musst du Augen haben für die Linien des Körpers,
der sich anschleicht, lautlos,
für das Muskelspiel unter der Haut,
für die Nüstern, die schon die Beute prüfen –

und deine Hand muss ruhig sein,
dass du im gestreckten Hals den Schatten triffst,
der im Fackellicht pulsiert,

den Augen ein Blitzen gibst,
dem
geduckten Rücken einen letzten,
zärtlichen Kohlestrich.

Grotte de Niaux/Réseau Clastres,
Ariège; Alter der Fußspuren 5000 Jahre

 

Spuren

 

Ein Weg hinein: waren drei Kinder,
die
kamen über die Düne in der Höhle,
über die paar Meter Sand,
der glatt war, ein wenig feucht,

rieben ihre Fackeln an der Wand,
damit sie
ein besseres Licht geben
(die Kohlestücke verraten eine Zeit
aufs Jahrhundert genau), 

ließen deutliche Abdrücke,
als hätten sie mit nacktem Fuß
den Ort in Besitz genommen,
als hätte es ihnen gefallen,
ein Gewicht zu sein im Lehm.

Und danach kam wieder das Geröll,
und die Tiere an der Wand,
von denen keiner wusste,
sprangen sie an,

und schnell sind sie wieder hinaus
durch den Bach oder andere,
längst verschüttete Gänge,
hinaus ins Bekannte: gepackt,
verschluckt vom taghellen Leben,

 und haben den Eingang nicht mehr gefunden,
nicht mehr gesucht,
aber ein Weg ist geblieben, hinein,
in Sand geprägt,
Schritte auf einem inneren Mond.

 

Stromausfall

 

Wo sind die Kerzen?
Im Keller bei den Weihnachtssachen,
wo keiner hinfindet. 

Wo sind die Streichhölzer?
In der großen Schublade,
wo sich keiner auskennt. 

Wo ist die Taschenlampe?
Im Kinderzimmer und kaputt.

 Wo sind wir denn.

 

Befund

 

Brandhorizonte
lebenstief, Anflüge von
Eiszeitlichkeiten.

 

Das dunkle Gestirn
über mir, in mir kreuzend
das helle Getier.

Haiku an Houston

 

Loch im Raumanzug:
Was
soll ich tun und flüstern
welchen Zauberspruch.