Gedicht "Textaufgabe"
Die mathematische Vermessung der Existenz, die Berechnung der
Lebenszeit: ist sie möglich? Dieses Denkspiel erprobt die Dichterin Susanne
Stephan (geb. 1963) in lakonisch verdichteten Versen - um gleich den inneren
Widersinn dieses mathematischen Experiments bloßzulegen. Das lyrische Subjekt
wird durch die eigene Lebensumgebung geschickt und dann wird ironisch eine
absurde Formel als Existenz-Koeffizient daraus abgeleitet. Die beiden
Schlussverse erst riskieren poetische Emphase - sie stellen eindringlich die
Frage nach der Vergänglichkeit.
Zähle die
Schritte um den Baum.
Sammle fünf Äpfel aus dem Gras.
Rechne dich
selbst dazu
und hoch drei.
Was ist die Summe
und was die Wurzel
aus.
Wie lange, meinst du,
bist du noch hier.
(Susanne Stephan, Gegenzauber. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen
2008)
Der Titel des Gedichts ist nicht nur als ironische Pointe zu
lesen. Denn eine "Textaufgabe" gibt es nicht nur auf dem Feld der Mathematik. Es
gehört wesenhaft zu den Aufgaben der Dichtkunst, die Frage nach den letzten
Dingen zu stellen. Das Rätsel des Daseins in immer neuen Anläufen einzukreisen:
das ist die "Textaufgabe" der Poesie.