Das rote Buch
(Stuttgarter Zeitung, 23.5.98)Für einmal Verlängern konnte die Mutter anrufen, dann musste man es wieder mitbringen. Manchmal gab sie das Buch aber schon nach drei Wochen ab, weil's so schön war, es beim nächsten Besuch in der Stadt wieder mit nach Hause zu nehmen. Es gleich im Regal zu entdecken, rotglänzend, dick und schwer, nicht ausgeliehen von jemand anderem. Außerdem blockierte es die Karl-May- und Tim-und-Struppi-Bände, denn pro Person waren höchstens drei Bücher erlaubt.
Aber nichts war besser, als das rote Buch ein weiteres Mal zum Auto zu tragen, die Badgasse hinunter zum großen Parkplatz an der Stiftskirche, vorbei an der italienischen Eisdiele und dem Salamander-Schuhgeschäft. Wir leben seit fünf Sekunden. Die Wunder des Weltalls, der Erde, der Menschen und des Atoms. Wenn das Weltall seit 0 Uhr besteht, so die Erde seit 7 Uhr. Gegen 8.30 Uhr erscheint das erste Leben und fünf Sekunden vor zwölf: der erste Mensch. Innerhalb einer Sekunde Pyramidenbau, Jesus Christus, Mittelalter und Hitler. Das Leben um sie herum: ein Atemzug. Und war doch so lang, so langsam, und sie hatte schon wieder so viel gelesen - die Seiten, die sie kannte und die neuen Kapitel -, bis sie runterkommen musste zum Abendbrot.
Da gab es gigantische Explosionen auf fernen Sternen, katastrophale Zusammenstöße im tiefsten All, die aber vor Abermillionen von Jahren stattgefunden hatten, denn so lange war das Licht unterwegs. Vielleicht schickten gerade jetzt Lebewesen auf einem anderen Stern Signale aus und die Erde würde sie erst empfangen, wenn denen da draußen schon die Sonne explodierte.
Da gab es große, extrem kalte Gas- und Staubwirbel: Ein neuer Stern wird ausgesetzt im All. Und immer wieder ein Planet hinter allen Planeten: Neptun, Pluto und vielleicht noch ein weiterer, wüster, ganz fern um die Sonne kreisender Trabant. Lebensfeindlich, wie es auf der Erde nirgends möglich ist, an den heißesten oder kältesten Orten trifft man auf Mikroorganismen und ihre Räuber.
Da gab es immer neue merkwürdige Objekte, Riesensterne, weiße Zwerge, einen roten Fleck auf dem Jupiter. Da gab es große Katastrophen auf der Erde, nur die größten waren im Buch: der Ascheregen von Pompeji, der Ausbruch des Krakatau. Die Explosion in der Wüste von Neu-Mexiko. Die Sonne ist eine Kerze dagegen, sagte einer der Männer auf der Rückfahrt im offenen Jeep.
Da gab es den Bäckerjungen von Pompji, das holländische Schiff, das durch die Krakatau-Flutwelle viele Kilometer weit ins Land getragen wird, immer wieder Verdüsterung der Sonne bis nach Europa hin, da gab es plötzliche Störungen des Funkverkehrs, Astronomen, die eines Morgens auf den Registrierstreifen blicken und ihren Augen nicht trauen, und Atomforscher, die, eine Zeitung schwenkend, aus dem Friseursalon rennen, mit halb abgeschnittenen Haaren. Tiefseetaucher, Weltumsegler, Rekord-Überlebende auf Rettungsflößen, Astronauten, die heil zum Mond gelangen, während andere beim Start verbrennen oder beim Rückweg auf die Erde stürzen, weil sich ihr Fallschirm nicht öffnen will.
Sie bestimmte selbst die Umlaufbahn des Buches. Alle sechs Wochen steuerte sie auf das Regal zu, wo es stand, ihr Buch: jeder Stempel hinten gehörte zu ihr, hatte die Bibliotheksfrau für sie hineingedrückt. Ein alter Planet mit abgegriffenen Seiten, aber unbeleuchtet, bis sie das Buch aufschlug. Von dort blickte sie ungehindert ins All. Sie konnte sich alles vorstellen, spielend leicht: Millionen von Lichtjahren. Noch hundertmal kleiner. Noch hundertmal größer. Die Gedanken waren schneller als alle Radiowellen und passten in den Kopf. Der entfernteste Stern (und noch einer dahinter, und noch einer) ordnete sich ein, ganz am Rand: wie im Spiegel, wie im Spiegel im Spiegel.
Nur die Grenzen des Weltalls waren ein Problem, und der Urknall, dafür müsste man den Kopf verlassen können, das Gehirn in den Zustand der Elemente zur Zeit der ersten Sekunden bringen. Aber schließlich, was blieb sonst übrig für Gott, eine gute Lösung, das konnte sie erzählen, beim Abendbrot oder im Schulbus, wenn niemand komisch guckte. Oder lieber die Geschichte vom Kirschkern, nein: kirschgroßen Stück Sonnenmaterie, das, auf die Erde versetzt, Deutschland und Frankreich bis fünfhundert Grad aufheizen würde. Ein Deutscher Pfennig würde ausreichen, eine Großstadt ein Jahr lang mit Energie zu versorgen. Wenn man nur das richtige Kraftwerk dafür erfand!
Das rote Buch steckte in einer braun gemusterten Nylontasche, zusammen mit drei Romanen, die ihre Mutter für sich ausgesucht hatte und die sehr nach "Bedingungen wie auf der Erde" aussahen oder nach den Fernsehserien-Schnulzen.
In der minimalen Sphäre, wo Leben - also eine höhere Eiweißverbindung - überhaupt möglich war, klackerten ihre Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster. Bei der Eisdiele wollte ihre Mutter lieber drinnen sitzen. Die große Frage war wie immer die von Wasser oder Milch - aber Schoko gehörte auf jeden Fall dazu. Erdbeer auch. Sie stellte sich selbst an die Theke, um zu überwachen, ob der Eisverkäufer mit seinem Eiskugellöffel in die richtigen Sorten fuhr. Er lachte zu jeder Mischung. Die Mutter saß an einem der kleinen runden Tische und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Stuhl neben ihr waren die Taschen mit Einkäufen aus der Stadt gestapelt. Am besten schmeckte es dann, wenn alle Kugeln ineinander verschwammen, das Eis auf dem kalten Löffel warm wurde im Mund. Der Eisverkäufer polierte die Theke und rief andauernd: "Tschau-Tschau!"
In der brauen Tasche war das rote Buch, für bis nach den Großen Ferien.