Der Dichter spricht
Text auf "Lesefutter"-Brötchentüten im Raum Leipzig im April 2010, anlässlich des Schumann-Jubiläumsjahres
Ich wusste nicht, dass Robert Schumann auch ein origineller
Musikkritiker war. Dass er an Werken von Bach das Komponieren erlernt hatte.
Und dass man romantische Klaviermusik auch anders als pedaltrunken vortragen
kann. Als meine Klavierlehrerin mir „Der Dichter spricht“ verordnete – als Test
für meine „Reife“, bevor es an die berühmte „Träumerei“ ging –, wollte es
einfach nicht gelingen. Erst einige Halbtöne: Der Dichter spricht in gesetzten
Worten, und das Publikum hört ihm andächtig zu. Dann eine nachdenkliche
Melodie, nicht schwer, aber während ich mich durch das Stück tastete und die
Lehrerin ihre geschwollenen Beine streckte, wuchs ein Bild in meinem Kopf: Da
war meine Oma, wie sie ein Gedicht hersagte – vorm Fenster stehend oder vor den gerahmten
Zierstich-Wäschestücken –,
von Heideröslein, Knaben und Mägdlein, goldenen Ringen, Spinnstuben,
Mühlrädern, die Gedichte hatten einen tam-tam-Rhythmus und einen absehbaren
Reim: Die Reimwörter waren der Punkt, wo die spitze Nadel von Omas Stimme
hinzielte. Je länger das Gedicht, desto vorwurfsvoller klang ihre Stimme, und
desto schriller, als würde sie gleich den Opa anschreien, dessen Augen sich
schon mit Tränen füllten. Er hob den Zeigefinger: Pass nur auf, das ist was
Schönes! Aber manchmal, ganz bestimmt, wenn ich nicht dabei war, hatte sie ihn
doch angeschrien, dann kam er zu uns nach Haus, und meine Mutter schloss gleich
hinter ihm die Wohnzimmertür und schickte meinen Vater los, es sei ja schließlich
seine Mutter! Das Stück habe ich dann nur einmal vorgetragen, aber mein Dichter
wollte nicht sprechen, wie er sollte, der Opa guckte übers Klavier, hob den
Finger! und fing zu weinen an.
© Susanne Stephan