Laudatio für Susanne Stephan
bei der Verleihung des Thaddäus-Troll-Preises am 11.11.07 im Literaturhaus Stuttgart
Höhlenfahrerin vor Farbe Blau (gekürzt)
„Die Reise hat uns als Wörter gesehen“. Diese Zeile eines finnischen zeitgenössischen
Dichters, eine rätselvolle Zeile, fiel mir ein, als ich Susanne Stephans Gedichte diesen
Sommer und Herbst kennenlernte. Matka on meidät sanoina nähnyt. Die Reise hat
uns als Wörter gesehen.
Warum kommt mir dieser Vers Jorma Eronens in den Sinn? Weil ich, wenn ich alle
Gedichte ihres Werks durchlese und wieder und wieder lese, und dann die Augen
schlieβe, mir ein Gefühl bleibt, dass der Boden sich unter mir bewegt, dass ich am
Rollen bin, am Gleiten durch Länder und Landschaften, durch Städte und Dörfer und
Schlösser und Straβennetzwerke, durch Höhlen und Schächte und durch die ganze
Geschichte der Menschheit. Ich, als Leserin reise mit und gleichzeitig bin ich Zeugin
des Drangs, Reisebilder in Sprache umzusetzen. (…)
Aber kehren wir zu den Gedichten zurück - zum Eindruck, dass die Reisebilder, und
die auf der Reise gesehenen Kunst-Bilder und Kunstobjekte, eine neue Dimension
dazugewinnen, wenn sie in Worte, in Gedichtworte, überführt sind. Hinter diesem
Verwandlungstrieb, so meine ich, stehen letztendlich zwei Gedanken, die für
Susanne Stephan sicherlich Bedeutung haben: dass das Wesen der Welt sich für uns Menschen als ein sprachliches darstellt.
Und dass die Poesie der Urgrund allen Sprechens ist. (…)
Die Gedichte, die auf Höhlen Bezug nehmen oder auf die in ihnen gefundenen ersten
Werkzeuge und Kunstgegenstände, die ja immer auch Kultgegenstände waren, sind
unter dem Kapiteltitel "Die Sehnsucht des Schamanen" versammelt. (…)
Die Höhle ist konkreter, geologischer, von prähistorischer Zeit kündender Ort, aber
wird im Verlauf des Manuskripts immer mehr eine aus dem Dunkel schimmernde
und in die Tiefe ziehende Metapher. In den anderen Kapiteln gibt es sie ebenfalls.
Immer wieder leuchtet oder dunkelt sie auf und ebenso dort auch die konkrete Höhle.
Endet doch das Manuskript am heute durch frische Entdeckungen immer wieder neu
lockenden Blautopf mit seinem unterirdischen Höhlensystem - der Boden der um ihn
gescharten Besucher ist brüchig, ja ist ein doppelter. Es endet vor dem zumindest im
Namen des Gewässers schwebenden sehnsuchtsvollen Blau.
Die Metapher ist die des Tauchens in Blumenmeere, in Erinnerungen an die Kindheit,
in den Traum, also in die Tiefe des Unterbewusstseins, in die Geborgenheit des Ursprungsschoβes.
Aber - das blitzt ebenfalls auf: auch zu den Wunden und Vereisungen der eigenen Lebensgeschichte.
Es ist auch die Metapher des Stehens mit dem Rücken zum Schutzraum, zum
sichereren Hinterland mit felsgerahmtem, aber ausschwärmendem Blick aufs
unergründliche weite Meer bei den Gedichten zu Caspar David Friedrichs Gemälden.
Und auch das Tauchen in den unbekannten lockenden Norden mit dem
Norwegenzyklus "Nordische Kombinationen" - der mich im Zusammenhang seiner
Nachbarschaft mit den Höhlen gar nicht überrascht. Denn im Wort Norden ist dieser
Gedanke schon enthalten. Etymologisch geht es auf die indogermanische Wurzel ner
zurück, die unten bedeutete, die untere Region. Wie im Finnischen‚ wo,
entsprechend, pohja - der Norden und pohja - der Boden, der Grund, die tiefere
Gegend ein und dasselbe sind.
Das alles ruft Hans Blumenbergs "Höhlenausgänge" auf, sein 1997 posthum erschienenes
letztes Buch - eine umfassende Studie der Höhlenmetapher in der abendländischen
Kulturgeschichte, wo er die Vorstellung der Höhle als bergenden Ort, als
Geburtshöhle der Menschheit - Schoβ der Erdmutter, aus der wir unwiderruflich
herausgestürzt sind und in die wir wehmütig oder neugierig oder vielleicht auch
verstört zurückschauen, in ihren vielen Facetten skizziert. Die Höhle, so setzt er
gleich, ist der Entstehungsort des ruhigen Schlafs, der Einbildungskraft, die
Geburtsstätte der Kunst.
Susanne Stephans Gedichte scheinen wie eine poetische Antwort auf die Blumenbergschen
Erkenntnisse. Sie lässt die Dimensionen der wirklichen und der bildlichen
Höhle aneinanderrühren, bis sie sich ineinanderschieben und sich immer neue Räume
eröffnen. (…)
Aber genauso Verse des Gedichts "Ihr Tag" aus den "Nordischen Kombinationen" -
symbolische Verse. Sie schildern eine blinde Sportlerin, nach innen gekehrt, mit
anderen Wahrnehmungen erfüllt als die Sehenden. Als der Vertreter der Medien, der
vom Wetter plaudert. Das mündet in die Zeilen:
(die Langläuferin)
drehte den Kopf und lachte
in die andere Richtung
Man wird hellhörig: die letzten Worte des Blautopf-Gedichts tauchen auf, wo das Ich
gewissermaβen die Welt abschlieβend grüβt mit: Ich lache. Neben den Anspielungen
auf die Sage der Lau und der Freude am Stehen auf doppeltem Boden ist ein Faden
auch zu diesen Zeilen gesponnen.
Aber Dunkles und Helles sollen im Idealfall so gewichtet werden: "Frühe Prägung",
eines der letzten Gedichte des Manuskripts, benennt den Jugendwunsch, der sicher
immer noch lebendig ist, nach der Begegnung, die blind macht und sehend.
Im Dunkeln, im Unzerredeten, liegt das Geheimnis, dem Susanne Stephan nachspürt.
und das sie sehend macht. Das betont, sie auch auβerhalb ihrer Gedichte, z.B. in ihrer
Lobrede für den Dichter Ulrich Koch zur Verleihung des Förderpreises des
Stuttgarter Schriftstellerhauses. (…)
Die Höhlen und ihre Kunstwerke, welche Susanne Stephan als Inspirationsquelle
dienen, wurden vom frühen Homo Sapiens verfertigt, vom Steinzeitmenschen - vor
30 000-25 0000 Jahren die frühesten. Sie haben aber bei ihren Gedichten, die einmal
erzählenden Charakter haben, einmal sorgfältig ausgearbeitete Miniaturen sind, nicht
nur Sammlerwert, sondern werden in einen riesigen Rahmen gebettet. Das Haupt-Ich
des Buchs ist ja Gegenwartsmensch, d e r Gegenwartsmensch und allmählich
schreiten wir auf ihn zu. Und so kommen die beiden Pole der Menschheitsgeschichte
ins Bild:
Wir sind die oberste Schicht,
neu angeschnittenes Jahrtausend
beginnt das Gedicht "Am Vogelherd" und ein anderes gibt Kunde von einer
Zwischenschicht mit dem Alter von 5000 Jahren. (…)
Damit wird ins aufgeblähte hochmütige Selbstverständnis der heutigen Menschheit
gestoβen, die, von Gegenwartsmanie besessen, den jetzigen historischen Zeitpunkt
für absolut nimmt. Dieses Selbstverständnis kommt hier zum Platzen.
Wir, so wird suggeriert, sind nur ein Staubkörnchen im Schichtenstapel der
Geschichte. (…)
Ein kurzes eindrückliches Höhlengedicht Susanne Stephans will ich ganz vorlesen.
Ein Handnegativ erscheint vor unsren Augen. Dieses Motiv wurde oft, viel öfter als
die Handpositive, die einen direkten Farbabdruck der Hand darstellen, unter den
Höhlenbildern Frankreichs und Spaniens gefunden.
Handnegativ
Die rot umflammte Hand
abgehalten auf Armlänge,
auf Augenhöhe,
dass einer lossprühen kann
präzise mit dem Mund
gut gebundene Erde
um Spitzen und Täler der Finger,
eine Hand, abwesend,
leuchtend nah.
Das Gedicht strahlt mit seiner roten Farbe, der archaischen Symbolsprache für Blut
und Leben, besonders heraus aus dem Höhlenwerk - die mundgeblasenen Konturen
von Handteller und Fingern und innen die freibleibende ausgesparte Fläche, hell -
grell. Das ist das Macht-Mal des Schamanen, die Bekräftigung der Gleichzeitigkeit
von materieller und spiritueller, von sichtbarer und unsichtbarer Welt - die
Bekräftigung der Unsterblichkeit der Hand und deren Werk.
Und es ist dichteste Bündelung der eigentümlichen Verwandtschaft von Mund und
Hand. Im Hirn liegen ja über dem Tastsinn Mund- und Handbereich eng beieinander.
Ein Mensch, der seinen Arm verlor, spürt, wenn man seinen Mund berührt,
phantomhaft seine Hand. - Mund, Hand.
Auch Celans Äuβerung fällt ein in Briefen an Hans Bender und Nelly Sachs, wo er
im Bezug auf Gedichte schreibt: das ist die Sache der Hände.
So ist es, wenn wir bereit sind zu verwandeln, möglich zu sagen:
Die Höhlenhand ist auch der Macht-Spruch des Schamanen, das aufleuchtende
magische Wort, Gegenzauber aus Worten. Und fügen wir hinzu: Ist ein Gedicht mit
seinen anfänglichen Aufgaben, die den vorhin zu den Bildern aufgezählten
gleichkommen. Ist die Gegenwart eines Gedichts, das gehört wird und verlischt, aber
sich einkerbt, einbrennt ins Gedächtnis.
Susanne Stephan setzt sich mit dem in der Lyrik lange skeptisch beäugten Phänomen
der Sprachmagie neu auseinander, schenkt ihm Raum und legt davon Zeugnis ab. Bei
ihrer Auseinandersetzung mit den Anfängen der Kunst und ihrer Verwurzelung in der
Epoche der Romantik, zumindest mit einem Teil ihrer Wurzeln, ist dies auch
schlüssig - und mir persönlich nahe.
Haiku an Houston - ein Haiku aus dem All, Gegenort zur Höhle - rührt an
Eichendorffs Wünschelrute - allerdings mit gröβerer existenzieller Brisanz:
Loch im Raumanzug:
Was soll ich tun und flüstern
welchen Zauberspruch.
Novalis, nennt den Poeten den "transzendentalen Arzt" und ist in diesem Sinne
angezogen vom Schamanismus. Auch schicken Zeilen seines Gedichts "Wenn nicht
mehr Zahlen und Figuren" ihr Echo durch Susanne Stephans Texte: Wenn man in
Märchen und Gedichten / erkennt die ewgen Weltgeschichten, / dann fliegt vor einem
geheimen Wort / das ganze verkehrte Wesen fort.
In der finnischen Kulturgeschichte übrigens spielt Wortmagie eine zentrale Rolle.
Das Volksepos Kalewala ist voll davon – z.B. vom Zaubern und Singen der
Widersacher und Störenfriede in Grund und Boden. Es gibt dort über 100
unterschiedliche Wörter zur Magie. Bis heute wird aufs Kalewala in der finnischen
Kultur gerne Bezug genommen.
"Wenn man in Märchen und Gedichten / erkennt die ewgen Weltgeschichten":
Märchen, auch mit ihrer Liebe zum Grotesken, zum Schwank und Schelmentum, zu
wundersamen Schicksalswendungen sind Susanne Stephan Geschwister der Poesie.
Das betont auch eines ihrer beiden Motti für das Buch.
Aber das Vertrauen in die Worte ist bei ihr, dem heutigen Bewusstsein entsprechend,
natürlich ein anderes. Ja, sie sollen aufbrechen, austreiben, bannen, aber der Gegenzauber
liegt auf Messers Schneide, bleibt eine Sehnsucht. Es gibt anderes, das
mächtiger ist als wir, analog der Zeile im Gedicht "Die Sehnsucht des Schamanen", wo
es heiβt: Die Tiere sind die Herrscher. Der Begriff Gegenzauber enthält den Aspekt
vom tapferen Widerstand.
Viel könnte man nun noch sagen zu dem, wie im ersten Gedichtband manches schon
angelegt ist, keimt und aufgeht im zweiten. Das ist ja etwas Spannendes, solch eine
Motiv- und Wortentwicklung, die parallel zur Pflanzenwelt verläuft, der sich Susanne
Stephan übrigens auch verbunden weiβ, samt der Metapher der Gärtnertätigkeit fürs
künstlerische Schaffen. Blumen, Rosen z.B. haben sie zu sehr schönen Gedichten
animiert.
Aber ich will hier nur noch einmal von dem Motiv der Höhle und der Tiefe sprechen,
das - fast überliest man’s - auch schon in den "Tankstellengedichten" existiert : die
Höhle der Straβenschächte, der Metrotunnels, und vor allem aber die Höhle, zu der
die Mutter sich hingezogen fühlt: In der Kindheit des Ich sitzt sie bei heiβem Wetter
im Keller als dessen Hüterin - was sie, nebenbei bemerkt, in einem Gedicht von
Gegenzauber auch noch ist. Sie verschlingt dort selbstvergessen Bücher. Und taucht
hoch, können wir dazudenken, taumelig, mit gedehntem Bewusstsein, in die jetzt
wohl neu und fremd schillernde Welt des Alltags.
Das sind die Vorzeichen und Wegbereitungen für diejenige, die später Höhlen
erkundet, in innere Räume reist, zurückkehrt, sich zurückmeldet mit
Lebenszeichen
Wie ich vom Dunkel ins Helle trete,
springen die Punkte mir nach,
rot und schwarz, aufflammend
in diesem leichten Sommertag
und Botschaften in jedem Fall
einer innerirdischen Intelligenz,
sind noch da, als ich die Früchte in Beutel sammle,
der Mann, der weiter weg nach den Pasteten sucht,
in die Endlosmusik ruft: Wo bist du?
und ich höre ich ein. Hier!
durchgesagt in einem offenen Körper.
"Die Reise hat uns als Wörter gesehen", das ist es, was der zu Beginn zitierte Jorma
Eronen eigentlich mit dieser Zeile meint: Ein Zustand der Verwandlung bei der Reise
in ein uns fremdes Universum. Und wir kommen zurück und führen mit uns die uns
zugelaufenen, uns überschirmenden, aufgeladenen Wörter.
Und hier bei unserem Gedicht? - Das Poröswerden der Ichgrenzen da im Supermarkt,
nach der Reise in die Tiefe. In den Bauch der Erde. Zur innerirdischen
Intelligenz.
Denn es gibt ein Bewusstsein, das weit über unser individuelles hinausgeht. Beste
Bedingungen, füge ich hinzu, für die Entstehung, die Geburt von Kunst - von
Gedichten.
Wir gratulieren Susanne Stephan, der Höhlenfahrerin vor Farbe Blau, heute von
Herzen zum Thaddäus Troll Preis.
Dorothea Grünzweig