Laudatio auf Susanne Stephan
von Jenny Erpenbeck (Hauptpreisträgerin) anlässlich der Verleihung des Kleinen Hertha Koenig-Preises am 3.12.2008 auf Gut Böckel bei Bünde (Auszug)
Hertha Koenig Preis/Gut Böckel
... Die Gedichte sind scharf, sie
kippen, sie tun sich plötzlich auf, wo man es nicht erwartet, sie schauen die
Dinge verkehrt herum an, aber vor allem tun sie etwas, was nach aller Befreiung
der Sprache, die wir hinter uns haben, nach all dem möglich gewordenen freien
Assozieren, nach aller Lautmalerei, nach den Wortspielen oder schon gar nach
dem sogenannten „genauen Beobachten“, das so oft in beliebiger Menge in Gedichte
gefüllt wird, mir als Segen erscheint: Sie bringen Gedanken zum Vorschein.
Höhlengrabung
Was wir finden: das Zerbrochene,
unbrauchbar Gewordene,
das gut Versteckte,
im Aufbruch Vergessene,
das Verlorene und Vermisste
wird uns alles erzählen.
Susanne Stephan beobachtet
natürlich genau, natürlich beherrscht sie die Worte, assoziiert, aber die
eigentliche Schönheit ihrer Gedichte liegt in der Freiheit, mit der sie
zwischen verschiedenen Dimensionen umherstreift. Mitten im Leben beginnen ihre
Gedichte, oft ganz lakonisch, bei Dingen, die wir kennen, dort beginnt sie ihre
Streifzüge, aber von dort aus verläuft sie sich weit, manchmal bis an die
Grenze des Todes, und setzt dann, ohne den Sprung zu verwischen, darüber
hinweg. Spuren sucht sie, geht auf Jagd, wissend, daß auch sie Spuren
hinterläßt, Beute sein wird für einen andern, größeren Jäger; was später einmal
an sie erinnert, wird dasselbe gewesen sein, was den Jäger zu ihr geführt hat.
Vielleicht kommt aus diesem Wissen ihr, wie ich finde sehr seltenes, Vermögen
zum – ich nenne es einmal so – bodenlosen Stehen und Schauen: Wenn sie ein Ding
anschaut, eine Höhlenmalerei kann das sein, ein Gemälde von Caspar David
Friedrich, aber auch eine Tankstelle, eine Blume, eine Klippe, gelingt es ihr
immer, noch einen Schritt weiter zurück zu treten, und sich selbst beim
Anschauen anzuschauen. Durch diesen Schritt hinter sich setzt sie sich selbst
dem Leser aus, und mich mir selbst: Plötzlich ist es meine eigene Schulter,
über die ich beim Lesen blicke.
Die Welt, die ich kenne, diese neue Welt, in der es Tankstellen, Zeitschaltuhren und Supermärkte gibt, in der aus Tempeln, Kirchen und Schlössern immer häufiger Museen gemacht werden, diese mitteleuropäische, nordamerikanische Welt, in der an die Stelle der Welt-Erfahrung Ausflüge in inszenierte Abenteuer treten, wird von Susanne Stephan mit fremdem Blick angeschaut. Sie vergisst nicht, daß man sich auch heute noch verlaufen kann, daß einem etwas im Rücken bleibt, auch wenn man sich wegdreht, sie verlängert das neumodische Vokabular konsequent bis ins Nichts hinein, das auch heute noch am Ende des Lebens auf uns wartet. Eine Klippe in der Bretagne, unter der einer Legende zufolge das Stöhnen der Ertrunkenen zu hören sein soll, inzwischen ein gut organisiertes touristisches highlight mit Parkplatz und shuttlebus, kann so bei Susanne Stephan wieder zu dem werden, was es einmal war: ein Ort mit Ausblick ins Schattenreich.
An der Pointe du Raz
Hier streckt der Kontinent einen Klippen-Finger
weit ins Meer,
das Meer leckt, das Meer hat Zeit.
Auch wir fahren hinaus,
gondeln Van an Van,
wir sehen alles bestens,
fast ohne toten Winkel.
Adventure-Weste,
All
Clima Control,
Alter, ungefähr.
Sie haben zwei oder drei,
zwei ist knapp,
drei großzügig aufgerundet,
auf Glück-komm-raus,
kriechen durch Gleichungen
und kürzen alle Unbekannten ein,
wir sind die glatte Lösung,
dick unterstrichen.
Wir in der „Bucht der Dahingeschiedenen“,
wir Touristen.
eine salzige Impfung,
und wir waren nicht zimperlich bei dem Wind.
Weißt du wieviel,
alle Strophen angesummt,
glühend, unterm Schädelzelt.
Die Sterne, die Menschen, ihr fehlt nichts an der ganzen
großen Zahl.
Und von uns auch jeder zehnte
Bis zur nächsten Etappe,
runden Lebenszahl –
sie sind undurchdringlich
wie unsere eigenen Körper.
Und dennoch ist, bei aller Schärfe des Blicks für die Endlichkeit des menschlichen Daseins der Ton der Gedichte von Susanne Stephan nie wehleidig, nie verzweifelt, ganz im Gegenteil ist es gerade ihre Illusionslosigkeit, die ihr auch das Lächeln über die eigene Begrenztheit ermöglicht. Niemals verlieren ihre Worte die ureigene Verbindung zu dem Wirklichen, dessen Ausdruck sie sind, Susanne Stephan „spielt“ mit dem Leben, lächelnd vermischt sie die Welten, wenn sie sich beispielsweise außer dem Spaten, der für ein Gedicht noch nicht ausreicht, außerdem noch in die Worte holt:
(...)
Doppelhacke,
Feinrechen,
Bodenlüfter,
Sternfräse -
(...)
Artefakt
Ein Splitter vom Mammutstoßzahn
–
kein Keil für den sicheren,
den todbringenden Griff,
kein Schaber zur weiteren
Zurichtung
von Knochen und Fell,
zu nichts nütze,
als seinen Besitzer zu tragen
über das Feuer,
über das Wasser,
zum dunklen Ufer
und zurück.