Venedig-Notate


Über Venedig schreiben: Versuch zu beschreiben, was die Stadt mit ihren Besuchern macht.
 
Der reiche Tourist, der sich am Flughafen vom Taxiboot abholen lässt und über den Canal Grande einfährt, stehend, wie ein Staatsgast der Republik. Die Besucher, die in der Traghetto-Gondel den Canal queren: stehen muss man! wie die Venezianer, aber die Augen bleiben aufs undurchdringliche, schwappende, schnappende Wasser gerichtet, während der Einheimische handytelefonierend in die Ferne blickt.
 
Auf dem Fischmarkt bei der Rialto-Brücke zögere ich noch, direkt vor den Verkäufern die kühlen, klaräugigen Fischleiber zu fotografieren – sie sehen aus, als sei eben eine letzte Welle über sie hinweggegangen, die ihnen das Leben genommen hat –, bis ich von der Seite, von hinten weggeschupst werde von anderen Kamera-Ellenbogen.


In der Osternacht in der Frari-Kirche stechen die Fremden heraus mit ihren Goretex-Jacken (zum Glück mitgenommen!) und ihren stummen Mienen; die Lieder sind so schlicht wie un-eingängig für jene, die mit dem Evangelischen Kirchengesangbuch aufgewachsen sind. So warten wir, bis die Vorsängerin mit ihren wiegenden, einschläfernden Dirigierbewegungen endlich abgetreten ist und es weitergeht in der Zeremonie der drei Priester, einem obersten und zwei beigeordneten, alle im prächtigen Ornat wie auf Papstbildnissen von Tizian, und hier auch noch unter der Assunta von Tizian. Mit angehaltenem Atem folgen wir ihnen in die Nebenkapelle vor die Madonna von Bellini (unserer heimlichen Mona Lisa von Venedig), wo ein Kästchen geöffnet, geschlossen wird, eine weitere Litanei angestimmt, O Jesus! Wir drehen die Kerze in der Hand, die wir mit in unser Zimmer nehmen und neben den Olivenzweig vom Palmsonntag legen werden, von dem wir nicht wissen, ob man ihn nun trocknet oder in die Vase stellt.

Als sich nach Mitternacht die Familien und Nachbarn die Hand geben, sich umarmen, stehen wir noch eine Weile herum, dann gehen wir heim, in einer Schar von Kirchgängern, die nach links und nach rechts in ihren Häusern verschwinden, und wir kommen uns vor wie in einem anderen Tableau, als hätten sich die Kulissen der Stadt für einige Stunden verschoben und die Menschen schlüpften gerade noch hinein.

Ein kleiner Campo, der an einen Kanal grenzt; aus dem Dunkel einer Gasse kommen Touristen, die, kaum haben sie den offenen Campo erreicht, schon den Stadtplan zücken: falsch abgebogen, durch die Lücke gefallen, die sich manchmal zwischen den Richtungshinweisen „Per San Marco – Per Rialto – Per Piazzale Roma“ auftut, als wolle die Stadt eine Falltür öffnen für den allzu geradlinig voranschreitenden, planenden Besucher. Sie drehen den Stadtplan, suchen den Campanile, werden nervös, wenn die Begleitung lacht und sich kurz an den Brunnen setzen will. Zurück, zurück.

Eine alte Dame geht an ihnen vorbei, auch sie bleibt kurz stehen, kramt in einer Tasche, geht weiter, über die Mitte des Campo hinaus, weiter als die anderen, die schon wieder verschwunden, steht fast am Kanal. Und schließt auf.

Der Campo Ghetto Nuovo, vor dem jüdischen Altersheim, ist immer belebt: spielende Kinder, Touristen in Cafés, die auf eine Führung durch die Synagogen warten, Einheimische im Gespräch mit den Carabinieri, die, wie es heißt, erst seit dem 11. September 2001 rund um die Uhr in ihrem kleinen Pavillon sitzen. Ich lese die Tafeln, die an die Deportationen erinnern, und will sie fotografieren – ich gehöre nicht zu denen, die mal eben kurz gucken und dann betroffen in den Schaum ihres Cappuccino pusten. Ich suche noch den richtigen Abstand, als ein Junge kommt und mich bittet, doch endlich aus dem Tor zu gehen.

Auch der Campo San Giacomo dall’Orio in Santa Croce gehört zu den wenigen Plätzen, auf denen man Fußball spielen kann und der Ball nicht davonrollt in einen Kanal. Ich stehe in der Alten Sakristei der Kirche, zwischen wuchtigen alttestamentlichen Szenen von Palma dem Jüngeren, „Der Mannaregen“ und „Die Bronzeschlange“, darunter klare Warnungen: Non toccare! Non fotografare! Area videosorvegliata! Von draußen hört man sehr deutlich die Kinder und krachen Bälle gegen die Kirchenwand, die, meine ich, ausreichen müssten für schrillenden Alarm - aber die Anlage ist weich eingestellt. Noch so ein Schuss und Jubel – drinnen liegt das Manna in kupfernen Töpfen, draußen steigen die Stimmen zum Streit.

Rainer Maria Rilke, der einmal die Mezzanin-Wohnung einer Gönnerin am Campo San Vio beziehen konnte, störte sich sehr an dem Kinderlärm vom belebten Platz: „durchaus keine Stille, nie, aber lauter Muster ins Gehör“. Das Geräusch-Gewebe (das er in demselben Brief anschaulich beschreibt, so das Hebeln am Brunnen und die Schläge, um den Stockfisch mürbe zu machen) wird sich ihm jedoch ebenso eingeprägt haben wie die visuellen Impressionen, die er auf seinen zahlreichen Spaziergängen durch die Stadt - ohne je eine Karte konsultieren oder nach dem Weg fragen zu müssen, wie er stolz vermerkt - gesammelt hat. Seine Venedig-Gedichte entstanden oft Monate später, an anderen Orten, in Erinnerung an Wege, Bilder, Stimmen.

Kein Autolärm, nie, dafür "Muster ins Gehör“: In meinem Zimmer im Studienzentrum morgens die Schreie der Möwen und das Klirren der Flaschen im Innenhof, Punkt acht Uhr entsorgt vom Hotel im Erdgeschoss - Leergut aus der Designer-Bar. Die Rufe vom Müllboot auf dem Rio San Polo. Später, auf der Terrasse: das Bremsen, Anlegen, Wiederanfahren der Vaporetti an der Station Sant’Angelo gegenüber (ach, und die ohrenschmeichelnde Ansage: „Prossima fermata: Sant’ Angelo, Sant’ Angelo“, gefolgt von einem bestimmten, aber nicht unfreundlichen: „Avanti, avanti!“). Abends dann ihre gewagten Wendemanöver an der Einmündung des Rio San Polo, diese gekonnten kleinen Wechsel zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgang, ein tieferes Muster als das Akkordeonspiel, das von den Gondeln herübertönt. O sole mio! Und wieder hat uns eine Möwe einen Topfuntersetzer geklaut und fliegt in Richtung Brunettis Dachterrasse davon. Und stürzten wir unseren Blättern nach, die der Wind gleich über die schwere Brüstung wehen wird, zur main road  der Sehnsucht.

Die Sirenen des Sanitätsboots. Das Pfeifen, Trommeln, Musikspiel von den Parade-Regatten oder Demonstrations-Flotten, das durch den Resonanzraum des Canal Grande von weitem zu hören ist. „Warum steigt der Milchpreis vom Bauern zum Supermarkt um das Fünffache?“ fragt ein Boot, das von Luftballons angetrieben zu sein scheint; Kinder auf Spielzeugtraktoren, gut vertäut, winken herüber. Die Touristen, die sich an den Haltestellen stauen (die Vaporetti haben rechtzeitig den Verkehr eingestellt) halten ihre Kameras hoch, die in der Sonne blinken - Realität und Bild gehen in eins, in maximaler magischer Auflösung. 

Die Terraferma bootsweise zu Besuch, vorbei an den imposanten Palästen in ihrer Leichtbauweise, an den Kirchen mit ihren gemalten Durchbrüchen zum Himmel, nach oben zu engel- wie heiligenfrei, und in raffinierter Verwendung: der rohe Verputz.

Nachts die Schritte in den Gassen, von weit her zu hören, in dunklen Kehren, durch meinen Kopf. Das träge Klatschen der Wellen an den  Fundamente, das Wiegenrauschen der Stadt: Man möchte endlos weiter lauschen, weiter lesen und schreiben. 



Über die Enge der Gassen geht der Blick hinauf; steht man am Ufer, springt er an der Horizontale gleich zum Himmel. Seit langem erwartet man hier nichts Großes übers Meer, keine wichtigen Nachrichten, keine wertvolle Fracht. Häuslich gibt sich das Wasser in der Stadt: häuslich, lästig, nagend.

Im 18. Jahrhundert fegt Tiepolo in seinen Deckenbildern die Engel und Gegen-Engel an den Rand, lenkt den Blick über die auftragsgemäße Himmelfahrt eines Heiligen weiter nach oben, zu einer leeren Fläche, wo feines Gewölk und grauer Verputz einander umkreisen, gleich hebt sich das Kirchendach und segelt davon.

Beim Aufwachen aus einem Traum denke ich ganz deutlich: "Schwimmen lernen muss ich nicht, aber fliegen!"

Dann träume ich davon, dass Venedig wieder eine richtige Insel ist, befreit von der gemauerten Verbindung zum Festland, ich bewege mich unter Menschen, die eine altertümliche Sprache sprechen, Latein! "Alles zu groß für mich", sage ich mir und reiße die Augen auf.


Ins Café  Florian oder ins Café Quadri? Wenn überhaupt, oder wenn das Musikprogramm der einen Kapelle genau unserer Stimmung entspricht. Aber in der einzigen Hochwasser-Nacht, die ich erlebe (ugewöhnlich für Ende April, ich erfahre in einem Geschäft davon, die Frau an der Kasse seufzt: scon wieder! und am Abend geht die Sirene los und kündigt mit drei Signaltönen für die kommenden Stunden 130 cm über Normal an), stelle ich fest, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt: Das Café Florian liegt wenige Zentimeter höher. Während beim Quadri die Stühle draußen schon gestapelt sind, alles zugesperrt, spielt beim Florian direkt gegenüber noch die Musik. Die Musiker auf ihrem Podest sind vom Wasser eingeschlossen, aber die Zuhörer unter den Arkaden sitzen im Trockenen. Ich gehe hinein, weil mir kalt ist, und bestelle eine heiße Schokolade. Sie wird wie von Liotards "Schokoladenmädchen" - das in Venedig für den Dresdner Hof aufgekauft wurde, zu der Zeit, als sich das Florian gerade etabliert hatte - mit einem Glas Wasser serviert. Dickflüssig ist sie und nicht zu süß. Es ist Mitternacht, auf dem Markusplatz tanzen die Menschen mit übers Knie gekrempelten Hosen, wir laufen in Gummistiefeln auf den Stegen hin und her, reichen uns die Kameras, could you please -?

Ich hatte es geahnt. Dass in diesen Laden zu gehen ein Fehler war, nein: nicht zweckdienlich, nein: ein unnötiger Umstand. Aber was gab es in Venedig sonst für Möglichkeiten. Auch im einzigen Kaufhaus Coin hatte ich nichts gefunden. Wo kaufen die Venezianer eigentlich ihre „Basics"?

 


Der Laden war mir schon länger aufgefallen in der engen Calle beim Goldoni-Museum, an der Rennstrecke zwischen Rialto und Accademia. Auch andere Passanten blieben vor den beiden Schaufenstern links und rechts der Tür stehen, von Holz gerahmte Vitrinen der alten Art, in denen allerdings sehr knappe, sehr modische Wäsche von Dolce & Gabbana und Calvin Klein ausgelegt war. Drinnen konnte ich hohe, dunkle, rundumgeführte Regale erkennen: So ähnlich sah der Wäscheladen im Dorf meiner Kindheit aus, als es noch einen Wäscheladen im Dorf gab, ein Frauenreich voller Büstenhalter, weißer gerippter Herrenwäsche, bunt bedruckter Kindersachen, Strümpfen (und Garnen zum Stopfen!), Taillenbänder, all diese hautfarbene Rüstungsteile, die bei uns früher im Bad hingen, während meine Mutter im Morgenmantel den Frühstückstisch deckte.

 

Eines Tages, am späteren Nachmittag, als ich auf dem Heimweg war, ging ich hinein. Vielleicht um dem Gedränge in der Calle zu entgehen. Um mich aus der großen Menge zu lösen, einen Schritt abseits des Weges zu tun. Die schrille Türglocke klang wie eine Alarmstimme in mir selbst. Dass es nichts bringen würde. Dass ich aber schon drinnen war und zwei Damen aufblickten, eine ältere und eine jüngere (Mutter und Tochter?), beinahe überrascht von der Kundin, der Touristin offensichtlich, die immerhin den Wunsch nach einem „pigiama“ oder „camicia da otte“ hervorbringen konnte, aber nicht zu dünn (es war zeitiges Frühjahr).

 

„Haben wir Schlafanzüge?“ fragte die eine. Ja, ja, meinte die andere, ganz oben! Wo die Leiter sei? Jetzt hätte ich gerne gerufen: Nein, nicht nötig! Aber da war schon die Leiter angelehnt, eine lange, glatt gegriffene Holzleiter, und die ältere stieg hinauf und prüfte die Kartons. Reichte einen hinunter, einen zweiten, einen dritten, die jüngere öffnete, schlug Seidenpapier zurück, ich erblickte ein Oberteil mit viel Spitze, nein, wehrte ich ab. Das gefalle also nicht? fragte eine ganz erstaunt. Das sei doch sehr hübsch! Oder vielleicht eher das? Ich sah wieder etwas Rosafarbenes, diesmal mit einem aufgedruckten Teddybär, von kleinen Herzen umschwebt. Man kann sagen, nachts sieht einen keiner oder einer, ein Schlafanzug muss nicht das große modische Statement sein, trotzdem: Ich konnte nicht. Ich konnte jetzt keinen von diesen hier in der Umkleidekabine probieren, auch nicht den dritten (Modell: Haltung bewahren, auch beim Schlafengehen!), mit Knopfleiste vorn, kleinem Kragen und – natürlich – rosa Paspel.

 

Das gefalle also auch nicht? Sie wirkten enttäuscht, oder hatten sie es nicht anders erwartet? Und mir tat es leid um die schönen Kartons und dass ich nach ein paar Höflichkeiten wieder zurück in die Menge schlüpfte.

 

Ach, hätte ich doch einen Schlafanzug ausgewählt, warum hatte ich hier einen Rückzieher gemacht, bei den vielen anderen Dingen, die man aus einem Impuls heraus kauft und die nutzloser sind. Der erste Schlafanzug war doch eigentlich ganz hübsch – und sehr italienisch! Nach einem halben Jahr – ich war längst nach Deutschland zurückgekehrt –, erfuhr ich, dass der Laden zugemacht hatte. Heute werden dort billige Lederwaren aus Fernost angeboten. Ich hatte es geahnt und den Laden besucht, bevor er verschwand.