Der Weg durchs Paradox
Das Zimmer der Livia im Palazzo Massimo alle Terme (Rom)
und die Poetik von Inger Christensen
Wäre dies eine Fototapete oder hyperrealistische Malerei, so wäre ich schnell wieder hinaus. Oder eine 3-D-Simulation: Ich würde die Brille in den Korb zurückwerfen, froh über den wiedergewonnenen nicht-virtuellen Raum um mich, in dem kein Vogel herangeschossen kommt und kurz vor dem Aufprall, haarscharf innehält. Oder eine Blume aufblüht wie eine Rakete, dass ich schützend die Hand vors Gesicht ziehe.
Aber es ist keine Simulation. Nur eine sehr gut erhaltene, wenn auch etwas verblichene und nicht ganz vollständige Wandmalerei aus römischer Zeit, das Gartenzimmer aus der Villa der Livia, Frau des Augustus, entstanden 30 bis 20 v.Chr. Ein kleiner Raum im Palazzo Massimo alle Terme gegenüber der Stazione Termini, mit seinen Sammlungen antiker Kunst laut Reiseführer „das zur Zeit wohl spektakulärste Museum in Rom“. Aber Rom hat viel Spektakuläres. An diesem Vormittag bin ich auf dem 2. Stock die einzige Besucherin. Während in der Sixtinischen Kapelle die Besucher unter Ellenbogen-Einsatz versuchen, möglichst viel echten Michelangelo aufs Bild zu bekommen, kann ich mich hier mit meiner Digitalkamera, mit eingeschalteter Videofunktion, so lange im Kreis drehen, wie ich will.
Die
Überwachungskamera
hat Geduld mit mir, auch die Aufseherin, die draußen mit zwei
Kolleginnen gegen
die Stille der Denkmäler anspricht. Einen Stuhl gibt es hier drinnen
nicht,
aber ich würde mich sowieso nicht setzen wollen, unruhig wie ich bin,
auf dem
Sprung – längst sollte ich wieder auf dem Weg sein zur nächsten
Besichtigungs-Station,
auf einem Weg, der nicht mit dieser Stadt gerechnet –, und doch
unfähig,
einfach hinauszugehen. Etwas irritiert, hält mich fest, als müsste ich
in diesem Raum ein Rätsel lösen oder das Rätsel erst herauslesen
und mich dann selber „lossprechen“. So drehe ich mich im Kreis,
ohne Kamera, denn die hilft mir nicht:
Der schwarze Vogel, der vor einem Blatt schwirrend in der Luft steht – will er landen oder fliegt er auf? Siegt Laokoon oder die Schlange? Oder der hier, der auf einem dünnen Zweig seinen gelben Bauch vorstreckt, das Köpfchen nach hinten, als wolle er testen, ob ihn noch etwas anderes trägt als dieser strahlende Fleck Gelb. Ein anderer, der nach einer Beere schnappt. Die Beeren leuchten immer noch am stärksten.
Und
wispern sie nicht miteinander, der weiße Vogel in der Astgabel und der zweite
auf dem Ast darunter, wispern wie zwei Hausbewohner auf verschiedenen
Stockwerken, aber doch ganz in ihrer für mich verschlossenen Vogelwelt. „Gerade
das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß
keiner“, heißt es bei Novalis. „Darum ist sie so ein wunderbares und
fruchtbares Geheimnis… Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß
es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. Sie machen eine Welt
für sich aus – sie sprechen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre
wunderbare Natur aus…“ Und schon sehe ich in einem Vogel ein
„Zeichen“ im semiotischen Sinn, der weiße Bauch als das Signifikat, das
Gefieder als das Signifikans….
Jetzt
fällt mir auf, dass der üppige Teil des Gartens – mit Blumen, Beerensträuchern,
Obstbäumen – von mir durch eine niedrige, doch geschlossene Mauer getrennt ist,
bewacht von großen Bäumen. Auf dem Mäuerchen sitzt ein dicker, wie gemästet
wirkender Vogel; auch ein Vogelkäfig ist darauf abgestellt, mit Gitterstäben,
die so weit auseinanderstehen, dass das gefangene Tier leicht entweichen
könnte, aber es bleibt reglos sitzen. Es sind nicht die schönsten Vögel im
Raum. Es sind die zutraulich gewordenen, gewohnten, grauen Wörter, die wir erst
wieder in die Sprache, den Garten jenseits der Mauer, zurückjagen müssen, damit
sie zeigen können, was an ihnen ist.
Ein Buch über das Gartenzimmer, das ich im Museumsshop kaufen werde, trägt den Titel „Le pareti ingannevoli“ (Die trügerischen Wände), aber in meinen Augen sind sie mehr als eine perfekte Illusion: Verdichtung von Leben bis zu der Grenze, wo seine Zeitlichkeit zu leuchten beginnt. In diesem Gartenreich gibt es keine Häßlichkeit, kein Welken, und doch weist hier alles auf das Vergehen der Zeit und der Menschen. Die Zeit ist auch hier die vierte Dimension. Der Maler hält mit seiner Kunst dagegen. Eine blühende Malerei gegen das große Wegsterben. (Und wenn das Zimmer der Livia, das halb im Kellergeschoss lag, der Zuflucht vor der Tageshitze diente, dann wird sich zur Erholung, zur Glückserfahrung auch Beklemmung gemischt haben – oder schon wieder die Befreiung davon.)
Die
Früchte, die Blumen. So schmerzlich fein gemalt, dass ich gegen mein sprachloses Staunen die Namen
zusammensuche, die ich kenne: Sonnenhut, Mohn,
Kamille. Kamille, Kamille. „die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt
es“, der berühmte erste Vers aus Inger Christensens Gedichtband „alfabet".(1)
Eine Vergewisserung der Welt, „Her-Buchstabieren“ der Dinge bei ihrem Namen,
Benennen ihrer Existenz und Schönheit und Gefährdung. Bei den zwei Versen zum
Buchstaben B erscheint schon der „brinten“, der Wasserstoff, mit dem Bomben
gebaut werden; bei D das Dioxin und die „dræberne“, die Töter, in einer Reihe
mit den „duerne“, den Tauben. Die Namen der Dinge haben eine Macht, die von den
Dingen selber aufgeladen wird:
genannt wird, daß namenlosigkeit beim namen genannt wird
daß es die namen gibt,
namen wie der narwal
die nessel, namen wie die
nelke, die nachteule…
namen wo ein wort wenn es
genannt wird ein duft ist
wie der name des narwals
für die arktischen meere“(2)
Für
den amerikanischen Lyriker W.C. Williams sind „Gedanken nur in Dingen“, ihm genügen
ein roter, regennasser Handkarren oder Pflaumen im Kühlschrank, um eindringliche
poetische Chiffren zu setzen. „… laß die dinge liegen; leg / die worte dazu,
aber laß die / dinge liegen…“ heißt es in Inger Christensens „alfabet“. Dichtung ist auch für sie ein Spiel,
„das wir mit der Welt spielen, die ihr eigenes Spiel mit uns spielt.“(4)
Es
gibt keine klar abgesteckte Route durch die Antagonismen, nur immer einen Weg
mitten durchs Paradox:
„Ich sehe die leichten
wolken
Ich sehe die leichte
sonne
Ich sehe wie leicht sie
einen
Endlosen verlauf zeichnen
Als empfänden sie
vertrauen
Zu mir die ich auf der
erde stehe
Als wüßten sie daß ich
Ihre worte bin“(5)
Aus
dem geschützten Kunstraum hinaustreten in den Lärm der Stadt, in die
Wirklichkeit, an die sprichwörtlichen „rauhen Winde“, dieses Wort vom bequem
erreichbaren Mäuerchen verscheuchen, das eigene Wort nicht mehr verstehen im
Wind, nicht mehr verstehen wollen. Die Worte sein für den Wind. Aus dem gemalten
Zimmer, dem utopischen Zustand, hinausgehen, zurückgehen ins Leben, „im Trost
des großen Trostlosen“ (Christensen, Gedicht vom Tod)(6)
Hinausgehen,
um darüber zu schreiben: "es wirkt nicht, aber es hilft" (Walle Sayer,
Das Kölbchen) (7). Sich frei-sprechen, indem man das eigene
Verschwinden
benennt. Sich fort-sprechen im Rhythmus einiger Sätze, Verse, die
plötzlich da:
Aber sehe das Zimmer schon leer, / und wie es weiter darin rauscht /
ohne Livia,
die schon lange tot, / und ohne mich.
(2) Inger Christensen, alfabet, S. 117
(3) Inger Christensen "Die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz", angeregt durch den schönen Aphorismus von Lu Chi (261-303 n.Chr.): "In einem Meter Seide findet sich der unendliche Weltraum; die Sprache ist eine Sintflut, aus einem kleinen Winkel des Herzens", in: Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod. Essays, aus dem Dänischen von Hanns Grössel, Hanser Verlag München 1999, S. 38.
(4) Inger Christensen, Teil des Labyrinths. Essays, aus dem Dänischen von Hanns Grössel, Kleinheinrich Verlag Münster 1993, S. 38.
(5) Inger Christensen, „Universalitäten“, aus: det/das, aus dem Dänischen von Hanns Grössel, Kleinheinrich Verlag
Münster 2002, S. 435.
(6)Inger Christensen, Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod, S. 11.
(7) Walle Sayer, Der Tag zu den Tagen. Gedichte, Klöpfer & Meyer Verlag Tübingen 2006, S. 86